Das Milizengagement: Ein Patchwork der Zeit

Das Milizsystem ist ursprünglich die gutschweizerische Antwort auf Bedrohungen von aussen. Doch heute steht es vor seiner grössten Bedrohung: sein Beharren, auf neue Fragen dieselben alten Antworten zu geben. Das Engagement zugunsten von Gesellschaft und Umwelt braucht ein Umdenken.

Tief geprägt von den napoleonischen und nachrevolutionären Kriegen und Reformen, die Europa eine Generation zuvor erschüttert hatten, verabschiedeten die Schweizer Kantone nach dem Bürgerkrieg von 1847 (Sonderbund) die Bundesverfassung vom 12. September 1848 – die erste gesetzliche Grundlage des heutigen Bundesstaates. Alle kantonalen Truppenkorps wurden dann mit der Bundesverfassung vom 29. Mai 1874 zu einer Bundesarmee zusammengefasst. Statt einem stehenden Heer war das Prinzip relativ einfach: Jeder Bürger leistete auf Abruf Militärdienst, wenn die Behörden dies für notwendig erachteten. Die Idee des Milizsoldaten war geboren. In den modernen Anfängen der Schweiz waren die Milizaufgaben militärischer und politischer Natur… und ausschliesslich männlich. 

Erst im Vorfeld der deutschen Invasion in Polen konnten Frauen per Verordnung vom 3. April 1939 einem spezialisierten Korps der Armee, dem Frauenhilfsdienst (FHD), beitreten. Die formale Gleichstellung musste bis ins 21. Jahrhundert warten: Frauen durften bis zur Reform vom 1. Januar 2004 kein bewaffneter Dienst leiten und nicht alle militärischen Funktionen ausüben.

Wildwuchs der Organisationen

Die beide Weltkriege haben die exponentiell wachsende menschliche Fähigkeit zur Vernichtung herausgestrichen; chemische Kriegsführung, atomare Zerstörung, Massenvernichtung, der totale Krieg. Angetrieben vom Gespenst des kalten Krieges wurde der Zivilschutz am 24. Mai 1959 zu einer der Aufgaben der Schweizer Miliz erklärt – per Verfassungsänderung und subsidiär zum männlichen Militärdienst. Heute umfasst der Zivilschutz nicht mehr nur den Schutz gegen Kriegseinwirkungen, sondern stellt den Schutz der Bevölkerung vor Katastrophen und anderen Notlagen sicher.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und den wilden 68ern wurde die seit fast einem Jahrhundert geforderte Entkriminalisierung der Dienstverweigerung aus Gewissensgründen am 17. Mai 1992 von einer grossen Mehrheit des Stimmvolkes angenommen; sie machte den Weg frei für den Zivildienst als Militärersatzdienst. 2004 erhielt der Zivildienst eigene Leistungsziele und wurde damit, in den Worten von alt Bundesrätin Leuthard, «zu einem wichtigen Mittel, um Lücken im Netz einer sozialen und ökologischen Schweiz zu füllen». Der Zivildienst gewinnt über die Jahre enormen Aufschwung. Um die steigende Nachfrage zu befriedigen, wurden immer mehr Tätigkeitsbereiche zum Zivildienstportfolio hinzugefügt (Gesundheitswesen, Umwelt, Kulturgütererhaltung etc.). 

Auf militärischer Ebene hat die Armee tiefgreifende Reformen durchgemacht: Mit der Armee 1961, Armee 1995, Armee XXI und jetzt mit der WEA-Reform wurden die Bestände kontinuierlich herabgesetzt. Trotz der Senkung ihres Bestandes ist die Armee heute mit verschiedenen Problemen der Personalbewirtschaftung konfrontiert. 

Das rein auf die Militärpflicht basiertes System wurde stückweise und unkoordiniert zu einem breiten Schutz- und Hilfsnetzwerk erweitert – immer in Reaktion zu neuen geopolitischen Bedrohungen oder sozialen Veränderungen. Nach wie vor bildet der Militärdienst den «Stamm» des Milizwesens, dem immer mehr Dienste und Aufgaben auf gezweit werden. Es bleibt die Frage, ob dieses zusammenhanglose Wachstum auf dem Rücken einer schwindenden Basis nachhaltig sinnvoll ist. 

Es braucht einen «Service Citoyen»

Ich begrüsse die Schritte, die die Milizinstitutionen seit Jahren Richtung Inklusion und Gleichstellung unternimmt. Dennoch bleibt der Dienst nur für Männer obligatorisch und im Ansatz rein militärischer Natur. Ich frage mich, wie ein zeitgemässer und zukunftsgerichteter Dienst an der Gesellschaft aussehen soll? Statt einem starr hierarchischen System von ineinander übergreifenden Dienstformen, einen Dienst, wo die unterschiedlichen Institutionen wie die Seilstränge zusammenarbeiten und in eine Richtung ziehen? Das ist die Idee des Service Citoyen. Kurz gefasst:

  • Jede Bürgerin und jeder Bürger leistet einen Milizdienst zugunsten von Gesellschaft und Umwelt;
  • Das Milizengagement kann in Form eines im Gesetz vorgesehenen, gleichwertigen, zivilen Dienstes absolviert werden (Militärdienst, Zivildienst, Zivilschutz, freiwillige Feuerwehr, Beistandschaften, etc.). Der Sollbestand der Armee ist garantiert.
  • Das Gesetz bestimmt, inwiefern Personen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft den Bürgerdienst absolvieren können oder müssen (unter Ausschluss des Militärdienstes). 

Mit dem Service Citoyen geht die Schweiz von einer exklusiven Wehr- und Männerdienstpflicht zu einem Milizengagement für alle über. 

Ich bin überzeugt, erst ein Miteinander macht wirklich tragfähig. Der Zusammenhalt aller dient als Schema für ein neu gestaltetes, weitergefasstes und resilientes Milizsystem, in dem alle, Mann und Frau, ihre Stärken für die Anderen einbringen können. Dank des neuen Service Citoyen können die jeweiligen Milizinstitutionen wirksam und auf Augenhöhe zusammenarbeiten, werden in ihren jeweiligen Kernkompetenzen gestärkt und können so schnell, unkompliziert und gemeinsam den wachsenden Herausforderungen begegnen – militärisch und zivil. Gerade die Coronakrise – die wie viele der Krisen des 21. Jahrhundert immer mehr zivile Dimensionen beinhaltet – verlangt nach einem solchen breitabgestützten Dienst. 

Zum Wert des Milizengagements

Das Milizsystem ist fest in der politischen Kultur der Schweiz verankert und Garant für das Gelingen der Demokratie. Es lebt vom Engagement jede und jeder: Jeder Bürger muss gemäss dem Subsidiaritätsprinzip öffentliche Pflichten und Aufgaben übernehmen, die seinen Fähigkeiten entsprechen, sei es in der Armee, im Zivilschutz oder in der Politik.

Die Globalisierung verändert unsere Denkweise und Art des Zusammenlebens. Junge Menschen sind immer mehr hin und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, ihre persönliche Karriere zu entwickeln und dem Wunsch, anderen zu dienen und zur sozialen Entwicklung der Gesellschaft beizutragen. Es wird jedoch immer schwieriger, beides zu tun. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit verstehe ich gut. Es ist aber schade, weil gerade ihr Milizengagement einen echten Mehrwert für Individuum und Gesellschaft bringt. Es charakterisiert und prägt die Organisation und das Leben der Schweizer Gemeinden.

Ich habe mich selbst für viele Projekte eingesetzt, in der Schule, in unterschiedlichen Vereinen, in der Schweizer Garde, im Militär und letztlich auch in der Politik. Ungeachtet der Funktion, in der ich tätig bin oder war, ist jedes dieses Engagements auf seine Art und Weise wichtig. Seien es die unzähligen Stunden in politischen Sitzungen und Veranstaltungen, die langen Nächte als Wache des Heiligen Vaters oder die mehr als sechshundert Diensttage fürs Militär hat sich für mich jedes Engagement gelohnt und ich bin sehr dankbar für die unbezahlbaren und lehrreichen Erfahrungen. Ich befürchte aber, dass zunehmend weniger junge Menschen dieses Engagement leisten können. Deshalb ist es so wichtig, dass wir alles tun, um unsere Jungen zum Mitwirken zu befähigen und ihren Platz in einer Gesellschaft im Wandel zu finden. Meiner Meinung nach gibt es dazu keinen besseren Weg als das Milizsystem grundlegend vorausdenken.

Alain MISEREZ, geboren 1988, ist Hauptmann in der Schweizer Armee und hat fünf Jahre in der Päpstlichen Schweizergarde gedient. Obwohl seine Rechtsweiterbildung in Genf viel Zeit in Anspruch nimmt, agiert der passionierte Historiker im Vorstand der CVP Stadt Genf und ist Mitglied im Initiativkomitee des ServiceCitoyen.ch.

Dieser Kommentar ist im «Schweizer Soldat» vom 17. Dezember 2020 erschienen
Photo: VBS/DDPS, CC BY-NC-ND 3.0 CH