Einer für alle, alle für einen: Initiative für einen Bürgerdienst

Interview von Hptm Frederik Besse mit Noémie Roten

12. März 2020

Nur jeder fünfte Bürger leitet noch Dienst in der Armee. Der Zivilschutz und verschiedene Feuerwehren klagen über Personalmangel. Das heutige Milizsystem ist angeschlagen. Ein Verein, namens ServiceCitoyen.ch hat ein neues Rezept. Noémie Roten ist Co-Präsidentin. Im Interview erklärt die ehemalige Motorfahrerin, wie Sie sich das Milizsystem der Zukunft vorstellt.

Frau Roten, wie steht es um das Schweizer Milizsystem? 

Noémie Roten: In den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger geht es dem Milizsystem gut. Milizarbeit als solches geniesst hohen Stellenwert. Allerdings gibt es eine Diskrepanz im Alltag, nämlich bei dem was wir sagen und dem was wir tun. In der Tat nimmt das ehrenamtliche Engagement seit Jahren kontinuierlich ab. Das spürt man beispielsweise in der Kommunalpolitik und bei den freiwilligen Feuerwehren besonders stark.

Für Sie ist der Milizdienst kein Fremdwort. Neben ehrenamtlicher Arbeit haben Sie auch Dienst als Motorfahrerin geleistet?

Roten: Genau, 2008 absolvierte ich die Rekrutenschule als Motorfahrerin. Ich war in unterschiedlichen Truppen eingeteilt. Bei der Sanität und Elektronischen Kriegsführung, um zwei Beispiele zu nennen. 2018 habe ich meine letzten Diensttage absolviert. Nun bin ich Ersatzrichterin im Militärgericht.

Wie sieht die Rolle der Armee im angestrebten Modell des Bürgerdienstes aus?

Roten: Grundsätzlich soll Jeder und Jede einen Dienst für die Gemeinschaft leisten. Die Milizarmee ist integraler Bestandteil davon, wobei Ausländer vom Militärdienst ausgeschlossen sind. Mit dem Bürgerdienst hat die Armee einen weitaus grösseren Rekrutierungspool. Mit dem Einbezug der Frauen, verdoppelt sich das Potenzial, quantitativ sowie qualitativ. In diesem Dienst ist die Armee dann gleichgestellt mit anderen Dienstleistungen. Ein grosser Unterschied zum heutigen System, bei dem der Wehrdienst die primäre Dienstleistung ist. Wenn man sich die Kohorte der heute 20-Jährigen anschaut – also Männer, Frauen und ansässige Ausländern – dann merkt man, dass nur jeder 3. heutzutage überhaupt Dienst leistet, nur jeder Fünfte in der Armee. Von einer allgemeinen Wehrpflicht kann heute also nicht die Rede sein, zunehmend auch in kultureller Hinsicht. Im Vergleich zum heutigen Wehrpflichtsystem bietet unsere Volksinitiative bzw. ein Bürgerdienst den Vorteil, dass Zivil- und Militärdienst entkoppelt würden: Militär- und Zivildienst könnten autonom organisiert und dadurch die Ressourcen zielgemäss und optimaler eingesetzt werden. Mit dem Bürgerdienstprojekt wollen wir ein Gefühl des allgemeinen kollektiven Engagements wiederherstellen und das Engagement für die Allgemeinheit stärken; der Dienst in der Armee wird attraktiver wahrgenommen, wenn sie als eine positive «Engagement-Option» wahrgenommen wird und nicht als eine Einschränkung, die einigen wenigen auferlegt wird. 

Apropos Dienst in der Armee: Haben Sie eine Kaderausbildung dort absolviert?

Roten: Das nicht. Ich bin Soldat geblieben und wollte das auch so. Meine Motivation, um in der Armee zu dienen war nicht das Weitermachen, sondern der Dienst an sich.

Das erstaunt mich. Warum wollten Sie nicht von der Führungserfahrung profitieren?

Roten: Lustig, dass Sie das auch erwähnen. In meiner letzten Dienstleistung wurde ich ebenfalls mehrfach darauf angesprochen. Ich wollte mein Land von innen kennenlernen und wissen ob ich diese Herausforderung meistern kann. Nach meiner Matura suchte ich eine Challenge und meldete mich. Als freiwillig-engagierte Frau wurde mir in der RS gesagt, dass ich sowieso zum Weitermachen gesetzt sei. Ich wollte aber im Anschluss an die Rekrutenschule auf Reisen gehen und mit dem Studium weiterfahren. Glücklicherweise hatte mein damaliger Stabsadjutant viel Verständnis für meine Karriere und Reisewünsche. Auch ohne weitermachen habe ich viel gelernt in meiner Dienstzeit. Im Initiativkomitee haben wir oft darüber gesprochen, wie unfair es sei, dass Frauen von wichtigen Fähigkeiten und Vernetzungsopportunitäten, welche die Armee vermittelt, nicht profitieren können.

Welche Fähigkeiten sind das für Sie?

Roten: Wie man sich in Stress-Situationen bewährt oder Verantwortung übernimmt zum Beispiel. Klar, Frauen können dies natürlich in der Armee erlernen – es gibt jedoch eine weitere Hürde für sie im Vergleich zu den Männern: Die Freiwilligkeit. Zuerst muss eine junge Frau den Schritt auch wagen. Ich bin mir sicher, dass wenn der Dienst in der Armee zu einer Möglichkeit in einem obligatorischen Bürgerdienst wird, sich viel mehr Frauen melden werden.

Sie kennen den militärischen Dienstbetrieb. Dort wird früh morgens bis spät in die Nacht gearbeitet. Soldaten gehen nicht täglich nach 17 Uhr nach Hause. Es ist klar, dass die Armee wohl die unbequemste Dienstleistung sein wird in der Auswahl. Wird ihr das zum Verhängnis?

Roten: Es ist klar, dass die Organisation der Armee mit der entsprechenden Tagesstruktur unabdingbar für unsere Sicherheit ist. Gewisse Einbussen an Komfort ist unvermeidbar, das ist mir klar. Die Suche nach «Komfort» ist aber kein universelles, menschliches Streben; Viele Menschen, die Sport-, Abenteuer-, Intensiv- oder Leistungsberufe ausüben, etc. sind nicht primär an Komfort interessiert. Die Armee bietet einen Rahmen, um sich auf psychischer und physischer Ebene zu behaupten, sowie einen «Esprit de Corps» und die Kameradschaft, dem anderen Diensten nicht gewachsen sind. Sie bietet auch einzigartige Ausbildungs- und Kompetenzbildungsmöglichkeiten, insbesondere in den Bereichen Governance, Sicherheit und zunehmend auch Cybersicherheit / ITBerufe. Bemerkenswert ist, dass die Initiative nur ein Verfassungsprinzip festlegt. Möglicherweise könnten die Einsätze der Zukunft z.B. auch in Stunden anstatt Tagen abgerechnet werden.

Mit der Annahme der Initiative käme es zu einem entscheidenden Wechsel. Bisher hat die Schweiz ihre Bürger zur Verteidigung verpflichtet – Nun soll es Arbeit sein?

Roten: Wir wollen keine Arbeitspflicht einführen. Es geht um das Engagement für die Gemeinschaft; Verteidigung gehört zu den öffentlichen Aufgaben. Heute ist es aber so, dass viele staatliche und öffentliche Aufgaben ehrenamtlich übernommen werden. Der Bürgerdienst sieht sich ideologisch dem Zitat von Präsident Kennedy nahe: «Frage nicht was dein Land für dich tun kann, frage dich was du für dein Land tun kannst». Für mich kommt es zu keinem Systemwechsel. Vielmehr passen wir ein bewährtes Prinzip an neue Begebenheiten an.

Kritiker sind der Meinung, dass die Initiative als Zwangsarbeit gelten könnte. 

Roten: Dem stimme ich nicht zu. Der Zivildienst wird schliesslich heute auch nicht als Zwangsarbeit bezeichnet. Im Grund genommen, kann man unsere Bestrebung als Erweiterung der heutigen Wehrpflicht auf Frauen mit zusätzlichen Wahlfreiheiten ansehen. Wenn das Volk sich in einem demokratischen Entscheid für eine solche Bürgerpflicht entscheidet, ist das eine Selbstverpflichtung. Dies steht im Einklang mit den internationalen Konventionen. Eine Selbstverpflichtung ist faktisch und ideologisch weit von der Zwangsarbeit entfernt.

Wie planen Sie die Befürworter der Wehrpflicht zu überzeugen?

Roten: Die Armee kann aus einem breiteren Talentpool rekrutieren. Ausserdem definieren wir die Sicherheit breiter als heute. Die Armee wird weiterhin durch den Bürgerdienst alimentiert und nun fördern wir auch andere Bereiche in der Gesellschaft. Beispielsweise der innere Zusammenhalt der Schweiz. Die Alimentierung der Armee liegt mir sehr am Herzen. Mit der Annahme der Initiative werden die Bestände der Angehörigen der Armee zum ersten Mal verfassungsmässig garantiert sein. Das könnte ein wichtiger Meilenstein in der Schweizer Sicherheit werden.

Zu guter Letzt: Können Sie uns Ihre schönste Erinnerung aus dem Militärdienst erzählen?

Roten: Da gibt es nicht nur eine! Was mich am meisten berührte, war die Vielfalt der Lebenswege und persönlichen Geschichten, die meine Kameraden mit mir teilten. Ich habe so viele Menschen am Steuer kennengelernt, die ich ausserhalb der Armee nie getroffen hätte. Ich durfte unterwegs die Geschichten meiner Beifahrer zuhören und mich mit Ihnen austauschen. Das waren bereichernde Erfahrungen, welche ich so nur in der Armee erleben durfte. 

Dieses Interview ist im «Schweizer Soldat» vom 12. März 2020 erschienen

Die Initiative

«Einer für alle, alle für einen», drückt für die Initianten das Ideal einer aktiven Solidarität und der individuellen Verantwortung aus. Der Verein ServiceCitoyen.ch schlägt vor, die Dienstpflicht neu zu denken. Dies in Form eines Bürgerdienstes, mit dem Fokus Mensch und Umwelt. Der Verein will den Bürgerdienst 2020 als Volksinitiative lancieren. Die Kernaspekte der Initiative sind: 

  • Jede Bürgerin und jeder Bürger leistet einen Milizdienst,
  • Die Milizinstitutionen (Armee, Zivilschutz, Zivildienst, etc.) werden als gleichwertig betrachtet,
  • Der Sollbestand der Armee ist garantiert,
  • Das Gesetz bestimmt, inwiefern Personen ohne Staatsbürgerschaft eine Dienstleistung leisten (Armee ausgenommen). 

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